Jeder Tag fühlt sich für mich an wie ein endloser Tanz. Ich wache am Morgen auf und werde ab diesem Augenblick von einem Partner zum nächsten getanzt. Jeder ist für einen Moment mein Begleiter, verbringt mit mir manchmal Sekunden und manchmal Stunden, bis dann ein anderer die Führung übernimmt. Nur sehr selten überlassen sie sie mir. Die Tänze, die sich daraus ergeben, sind so vielfältig, dass ich sehr selten zweimal am Tag die selbe Schrittabfolge erlebe. Einige Partner mögen es langsam. Sie klammern sich an mir fest und lassen einen trägen und schweren Tanz entstehen, bei dem ich die Beine nur mühsam vom Fleck bewegen kann. Mit jeder Sekunde, die vergeht, werde ich immer mehr gebremst und immer müder, so dass ich mich am Schluss nur noch mit letzter Kraft überhaupt auf den Beinen halten kann. Dann gibt es sehr wilde Partner, die mich dem Vorgänger heftig aus den Armen reissen und mit zackigen Bewegungen durch die nächsten Minuten steuern. Sie sind voller Kraft und Energie, nehmen aber keine Rücksicht auf Kollateralschäden. Solche Tänze jagen den Puls in die Höhe und sind frei von jeglichen Regeln. Jedem Impuls kann nachgegeben werden, denn der Tanz lebt von dieser freigesetzten Energie. So schnell solche Episoden beginnen, so schnell enden sie aber auch. Die meisten darauffolgenden Partner sind durch die Intensität oft so verunsichert, dass sie sich nicht trauen mich anzufassen. Mit einem klaren Sicherheitsabstand tanzen sie um mich herum. Ihre Verunsicherung zeigt sich in unklaren, schwammigen Bewegungen. Sie laden mich nicht zum Interagieren ein, so dass ich mich allein im Kreis drehe und verzweifelt die Richtung zum nächsten Partner suche. Die Tanzfläche wird immer leerer, je weiter sie sich von mir entfernen. In solchen Momenten muss ich dann die Führung übernehmen und wieder ein bisschen Leben in die Runde bringen. Vielleicht muss die Musik lauter sein? Ich probiere verschiedene Stile aus, warte ab, drehe mich gelangweilt um mich selbst, bis ich dann plötzlich eine Hand an der Seite spüre, die mich zum nächsten Tanz auffordert. Endlich! Dieses Mal ist er leichtfüssig und spontan. Nähe scheut er nicht. Voller Freude lasse ich mich vollkommen darauf ein. Er schwingt mich herum und ich muss aufpassen nicht zu stolpern, als die Geschwindigkeit zunimmt. Manchmal drehen wir uns so schnell, dass ich kurz abhebe und fliege. Die Leichtigkeit, die durch solche Tänze entsteht, lässt die Zeit schneller vergehen. Wirken wir kindisch, so wie wir hier umhertänzeln? Und wenn schon! Alles fühlt sich wunderbar einfach an und nichts auf der Welt scheint bedrohlich zu sein. Wieso kann es nicht für immer so sein? Plötzlich werden wir langsamer. Er scheint müde zu werden, möchte aufhören. Ich aber nicht! Wir kommen zum Stillstand. Er reisst sich etwas zu energisch los und lässt mich stehen. Während ich ihm enttäuscht hinterher sehe, spüre ich, dass mir jemand auf die Schulter tippt. Schon wieder von vorne? Ich lehne dankend ab, möchte meine Unbeschwertheit noch nicht loslassen. Wieder ein Tippen. Es wirkt dringend. Vielleicht muss ich einfach da durch. Widerstrebend tanzen wir los. Es fühlt sich nicht gut an. Ich bin abgelenkt, er ist Anfänger. Der Tanz wirkt unbeholfen und mit jedem Fehler, den wir machen, werden wir etwas angespannter. Meine Freude ist längst verflogen , als er plötzlich aufgeben möchte. Aber ich lasse ihn nicht. Wir haben etwas angefangen, also bringen wir es zu Ende. Da ich mehr Kraft habe als er, fällt es mir leicht seine Hände an Ort und Stelle zu halten. Wenn er sich losreissen will, drücke ich fester. Unsere Bewegungen sind nicht rund und harmonisch aber wir bewegen uns zumindest vom Fleck. Mit jedem Schritt ergibt er sich mir mehr und mit jedem Schritt werde ich schneller. Und je schneller ich werde, desto mehr Fehler passieren mir. Aber ich muss es durchziehen. Ich spüre genau: Bremsen geht nicht mehr. So tanzen wir weiter und weiter und werden schneller und schneller bis uns plötzlich die Fliehkraft trennt und wir schmerzhaft zu Boden fallen. Die Minuten vergehen zu schnell. Obwohl ich liegen bleiben will, zieht mich schon wieder jemand auf die Beine. Sofort werde ich in langsame, fliessende Bewegungen gezogen und obwohl der Tanz träge ist, geniesse für die nächsten Momente die Möglichkeit durchzuatmen. Die Schwere des Tanzes hat eine beruhigende Wirkung. Mein Partner führt nicht, ich auch nicht. Wir lassen uns dorthin treiben, wo es gerade passt. Nichts ist erzwungen, nichts ist hektisch, die Wucht ist komplett verschwunden. So tanzen wir gemeinsam eine ganze Weile, schwanken zusammen über die Tanzfläche, während alles immer dunkler und leerer wird. Die Leute gehen nach Hause und mein Partner bringt mich ins Bett.