Es war einmal: Ich. Ich wollte Gewicht verlieren und zwar mit einer gesunden Ernährungsumstellung und definitiv nur mit der Hilfe von Leuten, die sich da auskennen. Deshalb suchte ich meinen damaligen Hausarzt auf.
Fachperson Nr. 1 (ist eigentlich ein ganz normaler Hausarzt): „Versuchen Sie die Logi-Ernährung. Einfach nach 17 Uhr keine Kohlenhydrate mehr essen, das ist die wissenschaftlich am meisten fundierte Methode, sich gesund zu ernähren. Auf Wikipedia finden Sie eine gute Beschreibung.“
PS: Diesen Hausarzt habe ich jetzt zum Glück nicht mehr, da es schon ein bisschen verwunderlich ist, wenn du mit Migräne vor ihm sitzt und er im Internet nachschauen muss, was man bei Migräne so alles tun könnte.
PPS: Er bietet neu übrigens auch Heilung per Telefon an.
Fachperson Nr. 2 (Ernährungsberaterin für Essstörungen): „Sie brauchen unbedingt Kohlenhydrate, das Spüren Sie ja selber an Ihren kalten Händen und Füssen! Wenn Sie abnehmen wollen, reduzieren Sie das Fett, essen Sie mindestens fünf Portionen Eiweiss pro Tag und schrauben Sie die Kohlenhydrate wieder rauf. Wenn Sie nicht abnehmen können, liegt das nur an Ihrer Sturheit.“
Fachperson Nr. 3 (Hautarzt, der mir wegen massivem Haarausfall Blut abnimmt): „Ihre Werte liegen absolut im Normbereich, der Haarausfall kommt ganz sicher vom Stress.“
Fachperson Nr. 4 (Hausarzt 2.0): „Ich sehe das Problem nicht. Wenn ich Sie ansehe, dann fällt mir nicht als erstes auf, dass Sie dünne Haare haben. Wieso also sollte ich die Schilddrüsen-Antikörper testen? Sie sind immerhin nicht die Ärztin hier.“
Fachperson Nr. 5 (Endokrinologe aka erster Diagnose-Steller): „Zum Glück haben wir Ihre Schilddrüsen-Antikörper getestet. Sie haben eine Hashimoto-Thyreoiditis und müssen Medikamente nehmen. Deswegen haben Sie Haarausfall und konnten nicht abnehmen.“
Fachperson Nr. 6 (aka definitiv-keine-Diagnose-Stellerin): „Ich kann bei Ihnen auch nach 2 Jahren Therapie keine psychologische Diagnose stellen, denn ihre Schilddrüsenerkrankung hat so einen grossen Einfluss, dass dieser nicht von Ihren psychischen Problemen trennbar ist. Stattdessen würde ich Sie gerne zu einer Spezialistin für diese Krankheit schicken, welche Ihnen dabei vielleicht weiterhelfen kann.“
Fachperson Nr. 7 (Schilddrüsen-Psychologin): „Mit dieser Ernährungsumstellung können Sie ihre Symptome praktisch gänzlich verschwinden lassen und Ihre Werte in einen Norm-nahen Bereich bringen. Lesen Sie dieses Buch, vertrauen Sie der Wissenschaft, probieren Sie es aus. Autoimmunerkrankungen hängen so stark mit der Ernährung zusammen, dass sich durch eine Autoimmun-Ernährung viele Beschwerden, sowohl psychische wie auch somatische, beheben lassen. Der Hauptbestandteil der Ernährung ist die Vermeidung von Stoffen, welche man nicht verträgt, wie beispielsweise Gluten, Zucker, Casein, Molke, Soja, Eier oder Histamin.“
Ich (naive Sau mit Schilddrüsenproblemen, die scheinbar in keinster Weise von meinen psychischen Problemen zu trennen sind): „Ich habe nun nach einem Monat mit dieser Ernährung keine Kopfschmerzen mehr. Ich könnte mir vorstellen, ein paar Prinzipien der Autoimmun-Ernährung beizubehalten.“
Fachperson Nr. 6 (hat es ja gewusst): „Sehen Sie, ich habe ja gewusst, dass es einen grossen Einfluss hat!“
Fachperson Nr. 7 (die mir eine Diagnose und einen neuen Lebensstil präsentiert): „Es wäre am Besten, wenn Sie nicht nur Teile der Ernährung beibehalten sondern 100% glutenfrei essen, denn Sie haben ganz offensichtlich eine nicht-Zöliakie-Glutensensitivität. Sie werden es nicht bereuen. Gegen Ihre soziale Phobie wird es nicht direkt helfen aber dadurch, dass Sie sich dann besser fühlen, werden Sie ein selbstbewussteres Lebensgefühl entwickeln.“
Ich (bereue es tatsächlich nicht, da ich eine Essstörung habe und mir die glutenfreie Ernährung super in die Karten spielt): „Mein Leben hat sich nun endlich zum Guten gewendet.“
PS: Zum Guten hin, vom Gluten weg, hahaha
Fachperson Nr. 8 (Psychoanalytiker aka dritter Diagnose-Steller): „Es wäre therapeutisch sehr wertvoll, wenn Sie schrittweise mit dieser Schilddrüsen-Ernährungssache aufhören würden. Ich denke, Sie haben deshalb davon profitiert, weil es sehr gut zu Ihrer Essstörung passt und Sie dadurch eine externe Barriere zur Verfügung hatten, die Sie effizient von beängstigenden Nahrungsmitteln fern hielt. Ausserdem werden Schilddrüsenhormone mit ihrem Einfluss auf die Psyche massiv überschätzt. Wenn Sie Werte haben, die in der Norm liegen, und medikamentös eingestellt sind, wird die Schilddrüse keinen nennenswerten Effekt mehr auf ihre psychischen Probleme haben. Die beiden Problembereiche Schilddrüse und Borderline lassen sich bei Ihnen gut trennen.“
Ich (unwissend, was ich jetzt mit all den glutenfreien Nahrungsmitteln in meinem Schrank anfangen soll, ein bisschen wütend, ein bisschen hysterisch-lachend, nach wie vor hungrig und gefühlt die grösste Idiotin der Welt): „Shit.“