„Es ist fast so, als führten Sie ein Schattendasein.“
Was Dr. Freud mit dieser Aussage meinte und wie richtig er damit lag, wurde mir aber erst ein paar Stunden nach der Sitzung klar. Es geht darum, dass ich mich selber hinter eine Fassade stelle, die mittlerweile so „eingefleischt“ ist, dass ich sie schon gar nicht mehr als Fassade wahrnehme. Aber sie ist da. Unecht, gespielt, als ob. Eine Rolle, die ich nicht bin aber vorgebe zu sein. Und zwar immer: vor meinen Freunden, vor meiner Familie (vor allem vor meiner Familie!), vor meinem Freund, vor Fremden und auch vor mir selber. Aber was ist dann mein echtes Ich?
……….zu laut, zu still, zu aufgedreht, zu schüchtern, zu unreif, zu wütend, zu deprimierend, zu aufmerksamkeitsgeil, zu selbstbezogen, zu brav, zu sensibel, zu böse, zu viel, zu zwanghaft, zu steif, zu faul, zu dick, zu dünn, zu düster, zu dramatisch…………
Weil es also scheinbar immer irgendein „zu“ gibt, bin ich wohl nicht ok, so wie ich wirklich bin/wäre/sein möchte. Darum versuche ich mit aller Kraft, nicht „zu“ zu sein.
Ich schlucke meine Wut runter, damit ich nicht zu laut oder zu böse bin.
Ich zwinge mich dazu, gesellig zu sein, damit ich nicht zu still oder zu steif bin.
Ich sage nicht, wenn ich traurig bin, weil ich sonst zu düster oder zu deprimierend bin.
Ich unterdrücke meine positiven Emotionen, weil ich sonst zu viel oder zu aufgedreht bin.
Ich erzähle nichts von mir, weil ich sonst zu aufmerksamkeitsgeil bin.
Ich stehe nicht für mich ein, wenn mich etwas verletzt, weil ich sonst zu sensibel und zu selbstbezogen bin.
Ich verstecke meine Eigenheiten, damit ich nicht zu dramatisch oder zu unreif bin.
Ich erzähle nicht von meinen Erlebnissen, weil ich sonst zu faul oder zu brav bin.
Ich verdränge meine grosse soziale Angst, weil ich sonst zu schüchtern bin.
Dr. Freud sieht mich dann also zu unseren Terminen, wie ich angespannt dasitze, versuche irgendeine Leistung zu erbringen, die er gar nicht von mir erwartet, jemand Spezielles zu sein und eigentlich niemals darüber rede, wie es mir wirklich geht oder wer ich wirklich bin. Weil „wie es mir wirklich geht“ ist in meiner Wahrnehmung einfach falsch. Und weil ich diese Fassade immer aufrecht erhalte und immer mehr verinnerliche, geht mein wirkliches Ich allmählich dahinter verloren. Dort lebe ich nicht ernst- oder wahrgenommen vor mich hin, während meine Fassade zuverlässig dafür sorgt, dass ich übersehen werde. Und das hat er mit Schattendasein gemeint.
**Und weil ich nicht überdramatisch oder mich selbst bemitleidend wirken möchte, muss ich das noch schreiben: Es ist eher eine Kritik an mir selber, nicht an meinem Umfeld. Eine Erkenntnis, die mir vielleicht dabei hilft, mein echtes Selbst zu werden.
Wieso SOLLTE ES NICHT AUCH eine Kritik an deinem Umfeld sein? Wir sehen das so: Ok, du hast eine Fassade und es fällt dir super schwer, diese Fassade fallen zu lassen. ABER: Deine Umwelt hat dir beigebracht, dass du nur mit dieser Fassade akzeptabel seiest. Also unserer Meinung nach hat deine Umgebung da eine Menge mit zu tun. – Bei uns ist das mit der Fassade so, dass wir sie auch nicht fallen lassen können, wobei wir noch nicht genau wissen, ob jemand von uns sie aufrecht halten will/muss … wenn sie fällt, dann unbeabsichtigt und leider zu den unpassendsten Momenten.
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