Manchmal frage ich mich, ob ich dazu verdammt bin, jede psychische Störung (so ein tolles beschissenes Wort) zu durchleben. Als ob es ein Wettkampf gegen die Diagnostik sei. Schon seit etwa 10 Jahren finde ich mich nämlich irgendwie immer wieder in hellen Räumen mit schlicht gestaltetem Innenleben wieder, die zu irgendeinem psychiatrisch-psychologischen Dienst gehören. Ich habe so schon mit gefühlten tausend fremden Psychotherapiemedizinpflegefachpersonen über meine verborgensten Gefühle und Gedanken gesprochen, mir schon von gefühlten tausend fremden Psychotherapiemedizinpflegefachpersonen notfallmässig helfen lassen, mein Innerstes schon vor gefühlten tausend fremden Psychotherapiemedizinpflegefachpersonen nach Aussen kehren müssen. Und immer waren es andere Symptome, die mich plagten. Schön der Reihe nach wurden bei mir die unterschiedlichsten Verdachtsdiagnosen gestellt, die es dann beim nächsten Besuch zu revidieren galt. Die Liste ist mittlerweile sehr lang. Zuerst fand ich mich gut aufgehoben bei den Essstörungen. „Genau da liegt mein Problem!“. Vom Binge-Eating fastete und kotzte ich mich zur Bulimie, kam da aber so zackig wieder raus, wie ich reingerutscht bin, so dass am Schluss nur noch das hartnäckige selbstverletzende Verhalten blieb. Oder vielleicht doch eine depressive Verstimmung? Vielleicht ausgelöst durch eine soziale Angststörung? „Genau da liegt mein Problem!“. Damit lebte es sich dann eine ganze Weile. Angst kann ich nämlich gut. Genau so wie absolute Verzweiflung. Diese beiden schlossen dann ein enges Bündnis und teilten sich die Zuständigkeit für mein psychisches Wohlbefinden in sich abwechselnde Phasen auf. Dieses Auf und Ab blieb bis in meine Uni-Zeit. In der sich noch einmal alles veränderte. X-mal wechselte ich meine Studienfächer, traf undurchdachte Entscheidungen und konnte meine Emotionen kaum mehr im Zaum halten. Ich war einsam, traurig und erlitt temporäre Tiefpunkte. Körperlich ging es mir scheisse und geschoben wurde alles auf die Psyche. Hypochondrie ist seit dieser Zeit ein Thema, das mich zur Weissglut triggert. Dann erhielt ich nach langem Beharren und Suchen die Diagnose einer Autoimmunerkrankung und musste akzeptieren, dass ich scheinbar nicht mehr Herrin über meine Gesundheit war. So weit, so beschissen. Kontrolle verloren aber hey, immerhin bleibt’s spannend. Nicht. So entdeckte ich in meiner alles-ist-scheisse-Phase immer mehr die Vorteile des Lebens als Kontrollfreak. Planen, ordnen, Listen schreiben, aufräumen, zählen, rechnen, Genauigkeit. Eine Wohltat. Oder zumindest ein solides Coping-Mittel zur Emotionsregulation. Zuerst. Dann ein bisschen zu zwanghaft. Und immer engstirniger. Bis ich dann nicht mehr aufhören konnte mit meinen Abläufen, meinen Tics. Sie weiteten sich auf mein Essverhalten aus, wie schon früher. Nur dieses Mal mehr à la Typus restriktivus-kalorienfeindlichus. Nun gehörte mein Funktionieren fix in den Machtbereich des Zwangs. Passt eigentlich ganz gut zu den vielen Ängsten. Ich startete die erste langfristige Psychotherapie. Dort wurde schnell klar, dass ich nicht so einfach in eine Diagnosekategorie passte, wie bisher gedacht. Komorbidität ist ja auch normal bei psychischen Problemen. Wir gingen das Ganze sehr breit an, streiften diverse Verfahren und Diagnosen, fanden Erklärungen für sehr viele Symptome, entschärften eine Krise nach der anderen. In dieser Zeit wurde mir auch relativ spontan eine (nicht ganz so Stigma-behaftete?) bipolare Störung attestiert. Von einem Arzt. Nachdem er mit mir ganze zwanzig Minuten geredet hatte. Denn wenn ich nicht manisch-depressiv sei, dann bliebe ja nur noch die andere Variante. Die vernichtende, alles zerstörende, unaussprechliche Tabu-Diagnose einer Persönlichkeitsstörung. Nein, gehen wir auf Nummer Unsicher und bleiben bei einem ungeklärten Verdachtsbrei, dachten sich die Fachleute wohl. Und das taten sie. Sie blieben. Und immer, wenn sich die Problematik in Richtung „das, dessen Name nicht genannt werden darf“ entwickelte, gab es eine abrupte Kehrtwende im Therapieablauf. Immer wieder. Solange, bis dann mein persönlicher Psycho-Overkill eintrat. Ausgelöst durch was auch immer. Eine psychotische Episode. Wahnvorstellungen, Panikattacken, pure Hoffnungslosigkeit. Der Gedanke an Suizid wurde konkreter als je zuvor und zum ersten Mal zu meinem Freund und Helfer. Es gab einen Ausweg. Dann folgten Medikamente, ernsthafte Psychotherapie Nummer 2, Demut. Und die Erkenntnis, dass auch die Psychose nicht mein Hauptproblem, sondern eher ein Symptom meiner zugrundeliegenden Psycho-Basis war. So wie all die anderen Phasen zuvor wahrscheinlich auch. Somit ist jetzt zumindest etwas klar: Mein Problem ist nicht das chronologische Durchleben des gesamten Psychopathologie-Spektrums, sondern eher das chronische Erleben einer vielseitig-pathologischen Persönlichkeitsstruktur.